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Barbara Behrent, taz, 10.1.2019
Warum Theatermacher derart überzeugt sind vom theatralen Gehalt „Moby Dicks“, dass sie Herman Melvilles 900-Seiten-Brecher allerorts auf die Bühne wuchten, von Kiel bis Freiburg, ist auf den ersten Blick schwer einzusehen. Auf der empfehlenswerten Liste der „ungelesenen Bücher“ des Künstlers und Bibliothekars Julius Deutschbauer rangiert der weiße Pottwal auf Platz sieben – nicht ganz zu Unrecht.
Mitreißen, in die Tiefe ziehen kann die Geschichte über den Matrosen Ismael, der auf einem Walfänger unter Kapitän Ahab anheuert, um den sagenumwobenen Moby Dick zu jagen, durch den Ahab einst sein linkes Bein verlor, erst im grausamen Finale. Allein 300 Seiten braucht Melville, um überhaupt in See zu stechen. Ausschweifend wird über das Geschäft des Walfangs im 19. Jahrhundert geplaudert, über die Historie des Ausguckstuhls, die Zoologie der Wale bis hin zu deren Darstellung in der Kunstgeschichte. Philosophische Abhandlungen, enzyklopädische Exkurse, so weit das Auge reicht. Leser hatten damals einen langen Atem.
Feuertaufe für Tierfreunde
Ist nach der Hälfte des Romans der erste Wal gesichtet, kommt für Tierfreunde die Feuertaufe: Hunderte Seiten Gemetzel, Schlachterei, Blutbad, angerichtet durch die Waljäger, gilt es zu überstehen. Für unsere postkolonialen Bühnen steckt die Herausforderung eher in der Darstellung der nichtweißen Besatzung: Schwarze treten bei Melville als edle Wilde auf, als naive Kinder, immer wieder für einen Lacher gut – oder als Kannibalen. Und doch: Die sprachlich versierte Erzählung ist auch ein gewaltiges archaisches Epos über das Aufbegehren des Menschen gegen die Natur und gegen die Götter, über Fanatismus und Kadavergehorsam, über den Sinn des Lebens und seine finsteren Abgründe. Letztlich erzählt Melville 900 Seiten lang über den Kampf mit der Theodizee. Der rachsüchtige Ahab, den seine Zerstörungswut zerfrisst, der die Faust gen Himmel reckt wie der geschlagene Hiob, ist eine Bühnenfigur von antiker Wucht, die wir verachten und zugleich bemitleiden müssen.
Anita Vulesica, zuvorderst Schauspielerin im Ensemble des Deutschen Theaters, inzwischen auch als Regisseurin, Autorin und Soloperformerin unterwegs, interessiert sich für diesen Ahab allerdings wenig. Sie bürstet Melville schon insofern gegen den Strich, als sie die männlichen Dramatis personae von einem Frauenensemble geben lässt – Studentinnen der Schauspielschule „Ernst Busch“, an der Vulesica selbst gelernt hat. Fünf Frauen für den männlich konnotierten Mythos des Abenteurers auf dem weiten Meer.
Ganz in Weiß stehen sie auf der Bühne, wie der unheimliche weiße Geisterwal. In Reifröcken und Brautschleiern, mit Hosenträgern und futuristischem Anzug. Allein körperlich legen sie sich mächtig ins Zeug, schreien, rudern, singen – Damenwal. Dieses Ausbrechen aus den Genderklischees scheint jedoch eher Nebenprodukt zu sein. Zentral ist der Verzicht auf Rollenzuschreibungen, auf psychologische Figuren. Die Spielerinnen formieren einen Chor, binden sich ein Holzbein um, sind alle Matrosen, Erzähler, Ahab zugleich. Eine klassisch postdramatische Performance, die sich weniger für Menschen interessiert als für die philosophischen Fragen, die Melvilles Roman aufwirft: Wofür steht der Wal? Wofür die sisyphusartige Jagd, die niemals endet? Gespielt wird im „3. Stock“ der Volksbühne, der kleinen Spielstätte. Für einen Wal auf der Bühne ist kein Platz – durchaus aber für zwei schräge weiße Stege, die in T-Form zusammenlaufen und das wankende Schiff symbolisieren. Dahinter wird ein Segel gehisst, das zuweilen (ziemlich überflüssig) als Videoleinwand für Szenen herhalten muss, die – in alter Castorf-Tradition – hinter der Bühne spielen.
Die Spielerinnen zeigen Power, Funken sprühen, auch wenn sie zum fünften Mal einen Wal sichten, zum zigsten Mal in die unsichtbaren Ruder greifen und sich mit „Pull, pull, pull““ anfeuern. Bis eine die Ausdauer verlässt: „Aber ich bin doch kein Pulpo!“ Solche Sparwitze kann sich die Entertainerin Vulesica wohl nicht verkneifen. Gelungener sind die Walgedichte, die mehrstimmig schön a cappella gesungen werden – Eva Maria Nikolaus klingt sogar, als hätte sie eine klassische Gesangsausbildung durchlaufen. Unterhaltsam ist das, energetisch – doch es wird allzu viel verschenkt. Von dem archaischen Mythos, der düsteren Magie, den großen Figuren, also: dem großen Pfund des Romans teilt sich kaum etwas mit. Es ist die Crux so vieler Performances dieser Art: Wenn Figuren sich auflösen, Handlung verpufft, Motive nur angespielt werden, uniform gesprochen wird, bleibt wenig zurück, was sich wirklich einprägt.