PRESSE > Die Maschine — oder über allen Gipfeln ist Ruh
Frankfurter Allgemeine – 16. Oktober 2024 – Irene Bazinger
Von der Poesie der Schaltkreise
Goethe, nach allen Regeln absurder Kunst verhackstückt: „Die Maschine oder: Über allen Gipfeln ist Ruh“ von Georges Perec am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg.
Wenn man ein Wort unzählige Male nacheinander ausspricht, verliert es unweigerlich seinen Sinn. Die Buchstaben befreien sich von jeder Bedeutung und werden reiner Klang. Es gibt noch viele andere Arten, die Sprache zu sich zurückkehren zu lassen, und die meisten davon kannte der französische Schriftsteller Georges Perec (1936 bis 1982) – wenn er sie nicht sowieso selbst erfunden hatte.
Für seine Romane erarbeitete er jeweils spezielle, geradezu mathematische Konzepte. Legendär wurde „La disparition“ (1969) – darin verzichtete Perec ganz auf den Buchstaben „e“. 1968 schrieb er ein Hörspiel, in dem ein computerähnliches Gerät das Gedicht „Wandrers Nachtlied“ von Johann Wolfgang von Goethe nach allen Regeln eben nicht der Kunst, sondern der autonom-seriellen Technik verhackstückt. „Die Maschine oder: Über allen Gipfeln ist Ruh“ wurde nun als Uraufführung am Schauspielhaus Hamburg von Anita Vulesica inszeniert. Die Perec-erfahrene Regisseurin – am Deutschen Theater Berlin brachte sie von ihm bereits „Die Gehaltserhöhung“ heraus (F.A.Z. vom 1. Juni 2024) – erweist sich erneut als Meisterin des absurden Humors.
Für Perecs wohlkalkulierte, so raffinierte wie übergeschnappte Verbalexerzitien entwickelt sie eine Choreographie des apart strukturierten Chaos, in der alles völlig vernünftig wirkt, während es doch eigentlich drunter und drüber geht. Die Bühnenbildnerin Henrike Engel hat dafür eine riesige, altertümliche Apparatur mit Kabeln, Schaltkreisen, Lämpchen und einem Wall aus Röhren entworfen, die wie Orgelpfeifen aufgereiht sind, welche freilich keinen Pieps von sich geben.
Da klemmt doch was im Helm!
Das tut stattdessen Camill Jammal am Keyboard, der für schrille akustische Signale und sonstige musikalische Elemente sorgt. Er sitzt am Fuß einer breiten Treppe, die sich quer über die Bühne erstreckt und auf jeder Stufe Platz für einen Schreibtisch und drei Speicher bietet. Gespielt werden diese personalisierten Speicher von Moritz Grove, Daniel Hoevels und Christoph Jöde als klassische Nerds, die als getreuliche Befehlsempfänger zu Bestandteilen der Maschine geworden sind. Für das Funktionieren des Sprachschredders ist Sandra Gerling als Kontrollinstanz verantwortlich, die auch mal einem der menschlichen Speicher im Helm herumschraubt, wenn sich eine Störung abzeichnet. Auf ihr Geheiß hin werden Goethes Verse semantisch, grammatikalisch, poetisch analysiert, es werden Silben und Satzzeichen gezählt, Worte und Buchstaben vertauscht, ausgewechselt, paraphrasiert: „es ruhn die vögelein das schweigen waldet / es vögelt das schweigen der wald ruht.“ Oder so: „hinter diesem vogel steckt immer ein kluger kopf.“
Wie ein mechanischer, perfekt eingespielter Organismus eignet sich das bewundernswerte Ensemble Goethes kleines Gedicht als großen Schabernack an – dermaßen komisch, wie es nur mit vollem Ernst geschehen kann. Die Extremrhetoriker zeigen, wie viel Musik in Perecs paradoxer Partitur steckt, sie singen und tanzen und haben selbst für die kuriosesten Anforderungen – „das gedicht im stil eines elisabethanischen sonetts“ – eine schnelle Lösung parat.
Das gefällt auch Yorck Dippe, der mit Wuschelmähne und Kinnbart als Double von Georges Perec hergerichtet wurde. Wie jener ruft er gern vom hohen Stuhl des Schiedsrichters beim Tennis unpassende Anweisungen hinunter. Anfangs bringt er die Reste einer Jagdhütte mit, in der Goethe im Thüringer Wald den Urtext von „Wandrers Nachtlied“ an die Holzwand gekritzelt haben soll. Aber die Bühne dreht sich zwischendurch, öffnet sich zu einer freien Fläche, wo sich alle locker verteilen und mit aufgesetztem Gestrüpp und Geäst eine Natur beschwören, die längst nicht mehr existiert.
Süddeutsche Zeitung – 14. Oktober 2024 – Till Briegleb
Die klügsten Lachsalven der Saison
Am Schauspielhaus Hamburg wird Georges Perecs linguistisches Goethe-Experiment „Die Maschine oder: Über allen Gipfeln ist Ruh“ performt – und frenetisch bejubelt: ein Sprachwunder.
nachtkritik.de – 13. Oktober 2024 – Katrin Ullmann
Es waldet die Ruhe
Anita Vulesica gibt ihr Regiedebüt am Schauspielhaus Hamburg und setzt ihre Wiederentdeckung des Dichters Georges Perec fürs Theater fort. Als Mitglied der Gruppe Oulipo arbeitete Perec für die "Spracherweiterung durch formale Zwänge". In "Die Maschine" zerpflückt er ein Goethe-Gedicht – und das Hamburger Ensemble zieht in futuristischem Setting alle schauspielerischen Register.
NDR Kultur – 13. Oktober 2024 – Katja Weise
Schauspielhaus Hamburg: Viel Applaus für »Die Maschine«
Das Goethe-Gedicht "Über allen Gipfeln ist Ruh" ist Grundlage für ein Hörspiel, das nun fünfzig Jahre später erstmalig von Anita Vulesica am Hamburger Schauspielhaus als Theaterstück auf die Bühne gebracht wurde.
Das Thema könnte aktueller kaum sein. Kein Tag vergeht, ohne dass Chancen und Risiken von KI, von künstlicher Intelligenz, und das Verhältnis von "Mensch" und "Maschine" diskutiert werden. Im Schauspielhaus wird das Publikum zurückkatapultiert in die 1960er-Jahre.
Wir blicken mitten hinein in eine Art Computer: Vor einer riesigen, aus silbernen Röhren bestehenden Wand stehen auf verschiedenen Ebenen fünf gläserne Tische, versehen jeweils mit einem fetten roten Buzzer. Dahinter vier Männer und - ganz oben - eine Frau, alle im gleichen beige-mint-farbenen Outfit. Die Frau fragt: "Speicher in Aufnahmebereitschaft?", die Männer unter ihr antworten: "Aufnahmebereit". Nach allen Regeln der Maschinenkunst werden Goethes berühmte Verse geprüft und zerlegt, aufgesplittert nach unterschiedlichsten, mathematischen Prinzipien. Der Sinn spielt dabei keine Rolle. Was bleibt? Teilweise nicht viel.
Hamburger Abendblatt – 13. Oktober 2024 – Susanne Oehmsen
So spannend haben Sie Goethes Achtzeiler noch nie erlebt
90 Minuten gebannte Stille bei „Die Maschine oder: Über allen Wipfeln ist Ruh“ im Schauspielhaus – und das Ensemble hatte großen Spaß.
Hamburger Morgenpost – 27. Oktober 2024
Schauspielhaus: Die 90 verrücktesten Theaterminuten seit Langem
Im Schauspielhaus geht eine künstliche Intelligenz dem Geheimnis eines Goethe-Gedichtes auf den Grund. Festhalten, bitte! Gedichte zu interpretieren ist für die meisten Schülerinnen und Schüler der Vorhof zur Hölle. Schlimmer vermutlich, als den tatsächlichen Schulhof als Strafaufgabe fegen zu müssen: Was fühlte der Autor oder die Autorin beim Dichten? Wie wird es in den Zeilen umgesetzt? Und was fühlst du dabei? Arrrrgh!
In einem Hörspiel ironisierte der französische Autor Georges Perec vor mehr als 50 Jahren den technisch-wissenschaftlichen Ansatz, alle Dinge zu Tode zu analysieren. Und so setzte er eine „Maschine“ auf ein kleines, harmloses, wenngleich sehr berühmtes Gedicht Johann Wolfgang von Goethes an. Regisseurin Anita Vulesica holt den Spaß nun auf die Bühne des Schauspielhauses. Resultat: die 90 verrücktesten Theaterminuten seit Langem. Und ein Fest von Sprache und Schauspiel.